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Zur Theorie des modernen Romans

Karl Migner:
Tendenzen der Romangestaltung im 20. Jahrhundert                 

Wesentlich sind zwei Tendenzen, die für die Romangestaltung im 20. Jahrhundert bestimmend werden. Erstens: Die Erringung einer nahezu uneingeschränkten Freiheit für den Erzähler, für die Gestaltung des Helden, des Geschehens, der Komposition des Romans und für die Hereinnahme der unterschiedlichsten Darstellungsmittel, Stilelemente und Sprechformen. Und zweitens: Die in verschiedenen Spielarten erkennbar werdende Absicht, zu einer möglichst unmittelbaren Darstellung der ganzen komplexen Wahrheit über Mensch und Welt zu kommen. Das geschieht notfalls unter Verzicht auf äußere Realitätstreue, im Extrem in allen Einzelaspekten des Romans. [...I

Das bedeutet für Autor und Leser des modernen Romans: Der von souveräner Überlegenheit abgerückte Erzähler benutzt alle denkbaren Spielformen erzählerischer Haltung und 20 erzählerischen Vorgehens mit dem Ziel, möglichst viele Aspekte oder eine möglichst intensive Schau der gewählten Thematik zu erschließen. Das reicht von dem Eingeständnis des Autors, alles erfunden zu haben, bis zu seinem völligen Aufgehen in einer Figur, aus deren Perspektive die Welt gesehen wird. Dem Leser wird immer erneut angestrengte Bemühung um ein subtiles Verständnis von Aussage und Kompositionsform zugemutet.

Das bedeutet für das Helden- und Menschenbild des modernen Romans: Der einzelne ist weder als individueller Charakter noch als Typus, sondern vielmehr in seiner menschlichen Substanz interessant, die wesentlich mehr von seiner Beziehung zur Gesellschaft oder Außenwelt überhaupt abhängig erscheint als von Familie und Tradition. Der einzelne wird stärker von seinem Innenleben, von Bewusstsein und Lebensgefühl her gesehen als von möglichen Aktivitäten. Und er ist eher ein Versager, ein Scheiternder, eine Don-Quijote-Figur als ein großer Held oder Schurke.

Und das bedeutet für die Struktur des modernen Romans: Konstruktion und Montageformen beherrschen die Szene. Der Raum und vor allem die Zeit haben häufig genug ihre strukturierende Funktion verloren, aufgegeben zugunsten einer Wirklichkeit, die die verschiedensten zeitlichen Ebenen mischt. Damit ist auch der Erzählvorgang in Einzelteile zerbrochen, die nur noch beispielsweise durch Personen oder Motive zusammengehalten werden. In der sprachlichen Gestaltung kommen die unterschiedlichsten Tendenzen - nicht selten auch gleichzeitig - zur Geltung, von essayhafter bis zu stilisiert poetischer oder völlig verfremdeter Diktion.

Das bedeutet für den Weitgehalt des modernen Romans: Zur Wirklichkeit des menschlichen Lebens gehört in hohem Maße der Innenraum des Menschen, vor allem sein Bewusstsein von Zeit, Welt und Ich. Die dichterische Wirklichkeit verzichtet eher auf unwesentliche Details der Realität als auf selbst unrealistisch anmutende Erfahrung von Realität. In dieser zweifachen Hinsicht erscheint die Welt des modernen Romans erweitert; dazu tritt noch die auch im deutschen Raum zunehmend stärkere Einbeziehung der gesellschaftlichen Verhältnisse in den Bereich dichterischer Darstellung. [...]


Die Figur

Die Frage nach dem Menschen als mehr oder weniger genau bestimmbarem Wesen ist eines der zentralen Probleme des modernen Romans. Das gilt sowohl inhaltlich wie formal, denn die Struktur des Ganzen ist entscheidend von der Konzeption dieses im Mittelpunkt stehenden Dichtungsgegenstandes abhängig. Historisch gesehen, gehört der Romanheld als vorbildhafte, bestimmten Normvorstellungen verpflichtete Figur vergangenen Epochen an und wirkt bis ins 18. Jahrhundert hinein. Er entspricht einem statischen Bild vom Menschen und von der Welt, das in einer festen Ordnung begründet liegt. Im 18. Jahrhundert setzt sich der unverwechselbare individuelle Mensch als Romanheld durch, der erstmals im Don Quijote in Erscheinung trat. Mit ihm ziehen das psychologische Interesse in den Roman ein und eine Gestaltungs- weise, die nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung vorgeht und etwa erkennbar vom Charakter einer Figur auf ihre Handlungen schließt und umgekehrt.

Diese Sicherheit, den Menschen durch Beschreibung und Analyse durchschaubar machen zu können, geht im 20. Jahrhundert endgültig verloren. Auch das Interesse am Einzelschicksal eines Menschen verblasst. Und so dient die Gestaltung der Heldenfigur in zunehmendem Maße der Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen des Menschen in der gegenwärtigen Zeitsituation. Demgemäß werden sein Selbstverständnis, sein Lebensgefühl, seine etwa für die Gegenwart charakteristische Bewusstseinslage wichtiger als singuläre Erlebnisse von geringer Repräsentanz. Die Heldenfigur inmitten einer ihr keineswegs mehr selbstverständlich vertrauten Umwelt, die Heldenfigur in unter Umständen keineswegs mehr schlüssig erklärbaren Aktionen, die HeIdenfigur in oftmals unvollständiger, beispielsweise auf bestimmte Verhaltensweisen reduzierter Gestaltung tritt immer mehr in den Mittelpunkt des modernen Romans.

Versucht man eine Kategorisierung der Erscheinungsformen des Helden von der Konzeption der Figur - und nicht von der an ihr dargestellten Problematik - her, so lassen sich drei sehr stark ineinander übergehende HeIdenbilder entwerfen. Sie alle sind zumindest tendenziell auf die Verkürzung des Menschen angelegt. Das gilt ganz besonders für den auf bestimmte Inhalte reduzierten Helden, dessen Bewusstsein oder dessen Weltverständnis allein interessieren. Das gilt für den verfremdeten Helden, der als Anti-Held, als Don-Quijote-Figur oder als verkrüppelter Außenseiter erscheint. Und das gilt ganz ausgesprochen für den Helden als Kunstfigur, als Homunculus-Gestalt etwa oder als Phänotyp1 unserer Epoche.


Die Struktur

Neben der neuen Position, die Erzähler und Held im modernen Roman einnehmen, ist vor allem die veränderte Rolle zu nennen, die die Geschichte, die Fabel spielt. In dem Maße, in dem der Erzähler nicht mehr primär um der Unterhaltung willen erzählt und in dem der Held nicht mehr als singuläres Individuum interessant ist, kommt es auch nicht mehr darauf an, eine in größerem oder geringerem Umfang 1 abenteuerliche - und vor allem: geschlossene  - Geschichte zu erzählen. Zweifellos kann auch das individuelle Schicksal eines einzelnen genügend allgemeine Repräsentanz gewinnen, aber insgesamt ist die Gefahr, dass eine solche Darstellung stark verengt, sehr groß. Dabei kommt es heute immer mehr darauf an, die Frage nach dem Menschen, nach seiner Stellung in der Welt prinzipiell zu stellen. Dadurch rückt eine Zuständlichkeit eher in den Mittelpunkt als ein chronologischer Ablauf, ein Einzelproblem eher als eine Folge von Geschehnissen und prinzipiell die offene Frage, der Zweifel, die Unsicherheit eher als die gläubige Hinnahme der vorgefundenen Gegebenheiten.

Für die Bauform eines Romans hat das eine grundsätzliche Konsequenz: Die strukturierende Funktion von Held und Fabel, die durch ihre Konstitution und durch ihren Fortgang gewissermaßen „organisch“ für eine gegliederte Form sorgen, fällt ebenso aus wie ordnende Kategorien Raum, Zeit und Kausalität. Artistische Konstruktion, Montage unterschiedlicher Elemente müssen eine sehr viel kunstvollere Bauform herstellen. [...]

Das heißt, dass an die Stelle von Anschaulichkeit, Geschlossenheit und Kontinuität des Erzählens andere Kriterien zur Wertung eines Romans treten müssen: die Intensität des Erzählten sowie die Faszination, die von der Formgebung, von der Komposition auszugehen vermag. Und das heißt, dass eine Vielzahl formaler Elemente eine größere oder zumindest doch eine andere Bedeutung für die Romankomposition erhalten.

Erläuterung
1 Phänotyp: Erscheinungsbild

aus:
Migner, Karl: Theorie des modernen Romans, Kröner Verlag, Stuttgart 1970

Aufgabenstellung:
Stellen Sie die wesentlichen Strukturmerkmale des modernen Romans denen des traditionellen Romans gegenüber und zeigen Sie die gesellschaftlichen und weltanschaulichen Gründe für den Strukturwandel auf.

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