Friedrich Schiller: Über die tragische Kunst
Die Tragödie wäre demnach dichterische Nachahmung einer zusammenhängenden Reihe von Begebenheiten (einer vollständigen Handlung), welche uns Menschen in einem Zustand des Leidens zeigt und zur Absicht hat, unser Mitleid zu erregen. Sie ist erstlich - Nachahmung einer Handlung. Der Begriff der Nachahmung unterscheidet sie von den übrigen Gattungen der Dichtkunst, welche bloß erzählen oder beschreiben. In Tragödien werden die einzelnen Begebenheiten im Augenblick ihres Geschehens, als gegenwärtig, vor die Einbildungskraft oder vor die Sinne gestellt; unmittelbar, ohne
Einmischung eines Dritten. Die Epopöe, der Roman, die einfache Erzählung rücken die Handlung, schon ihrer Form nach, in die Ferne, weil sie zwischen den Leser und die handelnden Personen den Erzähler einschieben. Das Entfernte, das Vergangene schwächt aber, wie bekannt ist, den Eindruck und den teilnehmenden Affekt; das Gegenwärtige verstärkt ihn. Alle erzählende Formen machen das Gegenwärtige zum Vergangenen; alle dramatische machen das Vergangene gegenwärtig. Die Tragödie ist zweitens Nachahmung einer Reihe von Begebenheiten, einer Handlung. Nicht bloß die Empfindungen und Affekte der tragischen Personen, sondern die Begebenheiten, aus denen sie entsprangen und auf deren Veranlassung sie sich äußern, stellt sie nachahmend dar; dies unterscheidet sie von den lyrischen Dichtungsarten, welche zwar ebenfalls gewisse Zustände des Gemüts poetisch
nachahmen, aber nicht Handlungen. Eine Elegie, ein Lied, eine Ode können uns die gegenwärtige, durch besondre Umstände bedingte Gemütsbeschaffenheit des Dichters (sei es in seiner eigenen Person oder in idealischer) nachahmend vor Augen stellen, und in so ferne sind sie zwar unter dem Begriff der Tragödie mit enthalten, aber sie machen ihn noch nicht aus, weil sie sich bloß auf Darstellungen von Gefühlen einschränken. Noch wesentlichere Unterschiede liegen in dem verschiedenen Zweck
dieser Dichtungsarten. Die Tragödie ist drittens Nachahmung einer vollständigen Handlung. Ein einzelnes Ereignis, wie tragisch es auch sein mag, gibt noch keine Tragödie. Mehrere als Ursache und Wirkung ineinander gegründete Begebenheiten müssen sich miteinander zweckmäßig zu einem Ganzen verbinden, wenn die Wahrheit, d. i. die
Übereinstimmung eines vorgestellten Affekts, Charakters und dergleichen mit der Natur unsrer Seele, auf welche allein sich unsre Teilnahme gründet, erkannt werden soll. Wenn wir es nicht fühlen, dass wir selbst bei gleichen Umständen ebenso würden gelitten und ebenso gehandelt haben, so wird unser Mitleid nie erwachen. Es kommt also darauf an, dass wir die vorgestellte Handlung in ihrem ganzen Zusammenhang
verfolgen, dass wir sie aus der Seele ihres Urhebers durch eine natürliche Gradation‘ unter Mitwirkung äußrer Umstände hervor fließen sehen. So entsteht und wächst und vollendet sich vor unsern Augen die Neugier des Ödipus, die Eifersucht des Othello. So kann auch allein der große Abstand ausgefüllt werden, der sich zwischen dem Frieden einer schuldlosen Seele und den Gewissensqualen eines Verbrechers, zwischen der stolzen Sicherheit eines Glücklichen und seinem schrecklichen
Untergang, kurz, der sich zwischen der ruhigen Gemütsstimmung des Lesers am Anfang und der heftigen Aufregung seiner Empfindungen am Ende der Handlung findet. Erläuterung 1) Gradation: Steigerung. Abstufung aus: Neue Thalia. 1792-93, 1792, Erster Band, S. 176-228
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