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Aristoteles:
Über die Tragödie*

Die Epik entspricht der Tragödie, soweit als sie Nachahmung edler Dinge ist in metrischer Rede. Soweit sie aber nur ein einziges Versmaß benutzt und bloße Erzählung enthält, unterscheidet sie sich von der Tragödie. Ebenso auch in der Länge: die Tragödie versucht so weit als möglich sieh in einem einzigen Sonnenumlauf oder doch nur wenig darüber hinaus abzuwickeln. Das Epos dagegen verfügt über unbegrenzte Zeit [..]

Die Tragödie ist die Nachahmung einer edlen und abgeschlossenen Handlung von einer bestimmten Größe in gewählter Rede, derart, dass jede Form solcher Rede in gesonderten Teilen erscheint und dass gehandelt und nicht berichtet wird und dass mit Hilfe von Mitleid und Furcht eine Reinigung von eben derartigen Affekten bewerkstelligt wird. [..

Da ferner die Nachahmung einer Handlung gemeint ist, jede Handlung aber von Handelnden geführt wird, welche hinsichtlich ihres Charakters und ihrer Gedanken von einer bestimmten Qualität sind (denn diese bewirken, dass auch die Handlungen selbst von bestimmter Qualität sind, und eben in den Handlungen haben alle Glück oder Unglück), also ist die Nachahmung der Handlung der Mythos. Ich verstehe hier unter Mythos die Zusammensetzung der Handlungen, unter Charakter aber das, was macht, dass wir die Handelnden so oder so nennen, unter Absicht das, worin sie etwas aussagen oder eine Meinung äußern. [...]

Das Wichtigste davon ist der Aufbau der Handlungen. Denn die Tragödie ist nicht die Nachahmung von Menschen, sondern von Handlungen und Lebensweisen, von Glück und Unglück. (Glück und Unglück beruhen aber in Handlungen, und das Ziel der Tragödie ist eine Handlung, keine charakterliche Qualität. Qualifiziert sind die Menschen je nach ihrem Charakter, glücklich oder unglücklich sind sie aber auf Grund ihrer Handlungen.) Sie handeln also nicht, um die Charaktere darzustellen, sondern in den Handlungen sind auch die Charaktere eingeschlossen. Darum sind Handlung und Mythos Ziel der Tragödie. [...] Nachdem wir dies unterschieden haben, müssen wir nun sagen, wie der Aufbau der Handlungen sein soll, da ja dies das erste und wichtigste Stück der Tragödie ist.

Vorausgesetzt ist, dass die Tragödie die Nachahmung einer vollständigen und ganzen Handlung ist, und zwar von einer bestimmten Länge; es gibt ja auch ein Ganzes, das keine Länge hat. Ganz ist, was Anfang, Mitte und Ende besitzt. Anfang ist, was selbst nicht notwendig auf ein anderes folgt, aus dem aber ein anderes natürlicherweise wird oder entsteht. Ende umgekehrt ist, was selbst natürlicherweise aus anderem wird oder entsteht, aus Notwendigkeit oder in der Regel, ohne dass aus ihm etwas weiteres mehr entsteht. Mitte endlich, was nach anderem und vor anderem ist.

Es dürfen also Handlungen, die gut aufgebaut sein sollen, weder an einem beliebigen Punkte beginnen noch an einem beliebigen Punkte aufhören, sondern müssen sich an die angegebenen Prinzipien halten.

Ferner, da die Schönheit bei einem Lebewesen und bei jedem zusammengesetzten Dinge nicht nur darin besteht, dass die Teile wohl geordnet sind, sondern dass das Ganze eine bestimmte, nicht beliebige Größe besitzt (denn die Schönheit besteht in Größe und Ordnung; darum kann weder ein ganz kleines Lebewesen schön sein - die Anschauung hört nämlich auf, wenn sie einer unwahrnehmbaren Größe nahe kommt - noch ein ganz großes, denn da vollzieht sich die Anschauung nicht auf einmal, sondern das Eine und Ganze entweicht dem Anschauenden aus der Anschauung, etwa wenn ein Lebewesen zehntausend Stadien groß wäre), wie also die Körper und Lebewesen eine bestimmte Größe haben müssen und diese übersichtlich sein soll, so muss auch der Mythos eine bestimmte Länge haben; diese muss erinnerlich bleiben können. [...]

Der Mythos ist eine Einheit nicht dann (wie einige meinen), wenn er sich um einen einzigen Helden dreht. Denn unzählig vieles kann an einem einzelnen geschehen, und es wird dennoch aus dem allem keine Einheit. [...]

Wie also in den anderen nachahmenden Künsten eine Nachahmung sich auf einen Gegenstand bezieht, so muss auch der Mythos, da er Nachahmung von Handlung ist, Nachahmung einer einzigen und ganzen Handlung sein. Die Teile der Handlung müssen so zusammengesetzt sein, dass das Ganze sich verändert und in Bewegung gerät, wenn ein einziger Teil umgestellt oder weggenommen wird. Wo aber Vorhandensein oder Fehlen eines Stücks keine sichtbare Wirkung hat, da handelt es sich gar nicht um einen Teil des Ganzen. [...]

Da nun aber nicht nur eine vollkommene Handlung nachgeahmt wird, sondern auch eine solche, die Furcht und Mitleid erregt, so geschieht dies vorzugsweise, wenn es gegen die Erwartung und so, dass in einem Handlungsablauf Großes gestürzt und Niedriges erhöht wird, geschieht; denn so wird das Geschehen erstaunlicher, als wenn es sich von selbst oder durch den Zufall abwickelte.

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