ANGEWANDTE RHETORIK Brigitte Frank-Böhringer 1) Auszug aus: Charakteristik der agitatorischen Rede Das Ziel jeder agitatorischen Rede ist die Erweckung einer Tatbereitschaft, also die mittelbare Realisation. Dazu ist die pragmatische Zeichenfunktion notwendige Voraussetzung, denn es ist die Übertragung
von Imperativen erforderlich. Wie die Gesellschaftsrede unterhaltenden und das Fachreferat belehrenden, so hat die agitatorische Rede auffordernden Charakter. Dabei genügt es jedoch nicht, die Imperative auszusprechen. Sie müssen begründet werden. Eine Begründung im Sinne einer logischen Deduktion aus wissenschaftlichen Tatbeständen ist aber nicht möglich
(...). Möglich ist jedoch eine Herleitung aus von vornherein anerkannten Grundforderungen (Postulaten). Der einfachste Fall einer agitatorischen Rede besteht also darin, dass einem Publikum, welches in den Grundforderungen übereinstimmt, gezeigt wird, welche aktuellen Forderungen bei einer eingetretenen, vom Redner beschriebenen Situation zu erfüllen sind. Die Situation selbst gestattet eine wissenschaftliche Beschreibung; der Aufweis der zu erfüllenden Forderungen kann mit normativ -
logischer Strenge erfolgen. Der Typ der Rede, die vor einem Publikum mit übereinstimmend akzeptierten Grundforderungen gehalten wird, ist die Predigt. Die „Predigt von Benares“ beispielsweise, die Gaotama Buddha hielt, konnte auf der Überzeugung der Hörer aufbauen, dass das Leben leidvoll und daher zu überwinden sei, wobei der Selbstmord wegen der Wiedergeburten kein
Ausweg ist. Es genügt also einen Ausweg zu zeigen, dann waren die sittlichen Forderungen, in deren Erfüllung das Beschreiten dieses Ausweges bestehen sollte, bereits begründet. Vor einem modernen abendländischen Publikum hätte diese Predigt jedoch ihre Wirkung verfehlt. Stimmt das Publikum in den Grundforderungen nicht überein oder stimmt es zumindest nicht mit den
Postulaten des Redners überein, dann gibt es grundsätzlich drei Möglichkeiten, die Annahme der zu folgernden Forderungen dennoch durchzusetzen: - indem die Forderungen aus den Postulaten des Publikums, die von denen des Redners abweichen, normativ-logisch deduziert werden. Dies ist in Ausnahmefällen möglich. Beispielsweise werden die gemeinsamen
sittlichen Grundsätze des Buddhismus und des Christentums aus ganz verschiedenen Postulaten begründet;
- indem die Grundforderungen des Publikums geändert werden, so dass sie nun die Begründung der zu erhebenden Forderung ermöglichen. Dieser Weg muss bei der Propagierung einer neuen Idee beschritten werden;
- indem die gewünschte Forderung
- entweder durch falsche Situationsschilderung normativ-logisch richtig, oder
- durch richtige Situationsschilderung normativ-logisch falsch
(„eristisch“) aus den akzeptierten Postulaten gefolgert wird, in beiden Fällen also durch Täuschung des Publikums. (...)
Psychologische Mittel und Gestik bei der agitatorischen Rede Als Mitglied einer Masse (Menge von Menschen, die sich als Gemeinschaft fühlen) verhält sich der einzelne anders, als er sich außerhalb der Masse verhalten würde. Das rational denkende Individuum geht unter in einer völlig unstrukturierten Menschenmenge. (...) Agitatorische Reden sind meistens Massenreden,
für die besondere Regeln gelten, die sich aus der veränderten psychischen Verfassung der Masse ableiten. Überzeugend kann man nur zu einem, höchstens wenigen Einzelnen sprechen. Steht der Redner einer Menge gegenüber, muss er sie in eine Masse verwandeln, indem er ein gemeinsames Merkmal hervorhebt (Nationalität, Weltanschauung, Berufsstand . . . aber auch
Verkehrsteilnehmer, Steuerzahler usf.). Damit gelten für jedes Glied der so entstandenen Masse dieselben Argumente, die Masse entspricht in diesem Sinne einem einzelnen Partner des Redners, das ist die Grundbedingung jeder Agitatorik. Nun wird der Masse ein gemeinsamer „Feind“ gezeigt (Gelbe Gefahr, Bourgeoisie, Liberale Meute ... oder Getränkesteuer, Straßenlärm
usf.). Da die Masse sehr moralisch ist, muss man, um sie zu gewinnen, gräuliche Taten dieses „Feindes“ oder übelste Folgen der „Missstände darstellen. Das Zählsystem der Masse ist: eins, zwei, drei, alle. Daher genügt das Anführen von drei zugkräftigen Beispielen (aus diesem Grund lässt ein gewiegter Agitator nicht mehr als zwei Ausnahmen zu). (...) Die besten Hilfsmittel des Agitators sind:
wiederholte Behauptungen, Hinweis auf Autoritäten, die (wirklich oder angeblich) dasselbe sagten, Behauptung, die aufgestellten Thesen seien vernünftig und leuchteten jedem Vernünftigen unmittelbar ein, Hinweis auf die Erfahrung der Masse, viele (mindestens 3) anschauliche Beispiele (...), wobei bilderreiche Wendungen immer hohe Suggestivkraft haben. Ein auf Lügen aufgebauter Gegenangriff ist (leider!) wirkungsvoller als eine auf Vernunft gegründete Verteidigung („wer sich entschuldigt, klagt sich
an“). Der Agitator überlegt sich mögliche Einwände vor seiner Rede, führt diese entweder selbst an und entkräftet sie sofort, oder würgt sie von vornherein ab, indem er ohne den Einwand zu nennen, die Antwort darauf als These formuliert. Zukunftshoffnungen zu wecken, ist einer der besten Trümpfe des Agitators. Musik, Fahnen und viel Propaganda wirken zugunsten des „Nimbus“ des Agitators oder der Organisation, die er vertritt. In einem überfüllten kleinen Saal zu sprechen ist vorteilhafter für den Agitator, als in einem großen, halb leeren Saal. Außerdem müssen agitatorische Reden unbedingt abends gehalten werden. Will man nicht oder noch nicht eine Tatbereitschaft erzeugen, sondern die Meinung des Publikums ändern, so empfiehlt sich eine von Arthur Schopenhauer gegebene Regel („Zur Rhetorik“ in: Die Welt als Wille und Vorstellung): „Man lasse die Prämissen vorangehen, die Konklusion aber folgen. Diese Regel wird selten beobachtet, sondern umgekehrt verfahren ... man soll vielmehr die Konklusion völlig verdeckt halten und allein die Prämissen geben ... womöglich spreche man
die Konklusion gar nicht aus: sie wird sich in der Vernunft der Hörer notwendig und gesetzmäßig von selbst einfinden, und die so in ihnen selbst geborene Überzeugung wird um so aufrichtiger, zudem von Selbstgefühl statt von Beschämung begleitet sein. In schwierigen Fällen kann man sogar die Miene machen zu einer ganz entgegengesetzten Konklusion, als die man wirklich beabsichtigt, gelangen zu wollen. Ein Muster dieser Art ist die berühmte Rede des Antonius im 'Julius Caesar' von
Shakespeare“. ....)
Die Eristik, die Kunst, recht zu behalten (...), ist ein wirksames Mittel in der Hand des Agitators. Es ist aber vor allem von großem Nutzen für kritische Köpfe, derartige „Schlüsse“, die meist mit einer fast unmerklichen Verdrehung der Logik operieren, zu kennen und sie entlarven zu können, um ihnen durch geeignete Maßnahmen
entgegenzuwirken, sei es in einer Debatte oder allerwenigstens durch eine Kritik in der Presse u.ä. 1) Frank-Böhringer, Brigitte: Angewandte Rhetorik, in: Ulshöfer (Hrsg), Sprache und Gesellschaft, Band 1, Dortmund 1972, S. 158 - 161 ________________________________________________________ Hilfestellungen: 1. Definiere die agitatorische Rede 2. Liste übersichtlich den Einsatz psychologischer Mittel
und von Gestik bei der agitatorischen Rede auf
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